Dr. Dieter Wellershoff

Interview mit dem Autor Dr. Dieter Wellershoff

Sie sind in Neuss geboren und in Grevenbroich aufgewachsen. Welche Erinnerung an diese Zeit hat Sie am stärksten geprägt?

In Grevenbroich - die Vorteile einer Kindheit in einer kleinen Stadt mit viel Natur drumherum, wo man noch Indianer spielen, auf Feldern herumlaufen und auf Strohmieten klettern konnte. Eine Situation, die schon ein bißchen historisch ist.

Mit Blick auf Ihren schriftstellerischen Werdegang. Ist damals schon der Grundstein für Ihre Laufbahn gelegt worden? Waren Fächer wie Lesen und Schreiben eventuell schon in der Schule Ihre große Leidenschaft?

Die Schule hat den Anstoß nicht gegeben. Der kam durch einen Film über Schiller. Danach habe ich angefangen fast alle Theaterstücke von Schiller zu lesen. Zu dem Zeitpunkt war ich in etwa 15 oder 16 Jahre alt. Anschließend habe ich dann auch andere Theaterstücke gelesen und schließlich selbst zwei geschrieben.

Doch das alles wurde für Jahre unterbrochen, denn ich wurde Soldat. Und erst später, als Student in Bonn, habe ich wieder angefangen. Alles, was ich damals geschrieben habe, wäre beinahe in einem Verlag veröffentlicht worden. Doch der ist pleite gegangen und so kam es nicht dazu. Dann habe ich alles noch einmal gelesen und verbrannt und mir gedacht, daß ich irgendwann noch einmal neu anfange.

Das hat aber Jahre gedauert, weil ich nach dem Studium geheiratet habe und bald auch eine Familie mit Kindern hatte und vom Schreiben leben mußte. Daher habe ich zuerst einmal für den Rundfunk geschrieben - Features, Nachtprogramme. Damals war der Rundfunk das allgemeine Bildungsorgan und wegen des Mangels an Büchern und Zeitschriften von großer Bedeutung.

Ich habe jahrelang für den Rundfunk geschrieben, bis ich dann langsam merkte, daß es so nicht weitergeht, daß ich mich total ausschreibe und zu dem, was ich eigentlich machen will, nicht komme. Danach hatte ich zuerst Erfolg mit Hörspielen und bin schließlich Verlagslektor geworden, um Geld zu verdienen. Das war dann noch einmal ein gewisser Aufenthalt, bis ich ganz Schriftsteller wurde.

Und dann haben Sie sich voll aufs Schreiben konzentriert?

Ja. Ich bin sicher, wenn es ein bißchen später gewesen wäre mit meinem Studienabschluß, ich habe 1952 promoviert, dann wäre ich in die Aufbauphasen der Universitäten hereingekommen und wahrscheinlich Professor geworden. Später habe ich noch zwei Angebote für Professuren bekommen, aber da war ich mir darüber im Klaren, daß ich das nicht mehr machen wollte.

Das war zum falschen Zeitpunkt.

Ich bin zufrieden, daß es so gekommen ist.

War das damals so, daß auch Ihre Eltern eventuell eine bestimmte Vorstellung hatten, welchen Beruf Sie ergreifen sollten?

Meine Mutter ist im Krieg auf der Flucht vor den Bomben gestorben. Mein Vater war Soldat von 1938 an und ich wurde dann ebenfalls Soldat. Meine Mutter, die las alles von Thomas Mann bis Courths-Mahler. Dadurch gab es natürlich ein paar Bücher im Haus, in denen ich gestöbert habe. Bezüglich meines eigenen Interesses, da kann man eine richtige Reihenfolge erkennen - Märchenbücher, Sagen, Indianerbücher, Kriegsbücher, Klassiker.

Heute gehören Sie zu den Großen der deutschen Literatur. Die Liste Ihrer Veröffentlichungen umfaßt Novellen, Romane, Hörspiele, Essays, Drehbücher, autobiographische Bücher und Kritiken. In welchem Genre fühlen Sie sich am ehesten zu Hause? Sprich, lieben Sie eines dieser vielfältigen Gebiete besonders?

Ich finde was man gerade schreibt, ist immer das wichtigste. Und in jeder Sache kann man auch alle seine persönlichen Möglichkeiten entfalten. Es sind einmal verschiedene Sprachebenen, Denkebenen. Ich glaube aber, daß bei den literarischen Texten der psychologische Roman, die psychologische Erzählung das für mich entscheidende ist. Das Genre - ich sehe es so, daß in unserer Gesellschaft die alten traditionellen Sinnquellen, Religion oder politische, utopische Orientierung, Marxismus, alles das hat seine Bedeutung relativ eingebüßt. Die Menschen sind auf sich selbst verwiesen. Denen wird gesagt, seht zu, daß ihr etwas aus eurem Leben macht und versucht miteinander zurecht zu kommen, und das bedeutet an die Stelle von moralischen Richtlinien usw. ist die Psychologie getreten, also das sich gegenseitig einschätzen, gegenseitig aufeinander einwirken, ja auch eine hochillusionsanfällige Situation natürlich. Aber die Menschen sind Glückssucher in einer Welt, die begrenzt ist, die ihnen aber sagt, daß ist alles was du erwarten kannst, also mach etwas daraus. Das ist mein Thema. Ich hab einmal gesagt, um es mit Nitzsche zu sagen, schreiben nach dem Tod Gottes.

Wie ist Ihre Herangehensweise an einen Roman, ein Hörspiel, ein Drehbuch? Ist die Vorgehensweise bei allem gleich oder ähnlich oder variiert das von Genre zu Genre?

Jedes Thema verlangt einen völlig neuen Zugriff, gewissermaßen noch nicht ganz sehend, ein bißchen blind, aber mit einigen Dingen, die einen Kern bilden, aus dem etwas entstehen kann. Das ist ein Suchprozeß, das Schreiben, d.h. man trifft eine Entscheidung, die schließt Möglichkeiten zu und andere Möglichkeiten aus. Wenn man sagt, die Person hat das und das getan, und die hat die und die Vorprägung, dann ist manches möglich und manches nicht mehr möglich. Und auf diese Weise sucht man etwas, also in einem entstehenden Sinn, weil Schreiben ist eine Suche nach dem komplexesten Verständnis einer Ausgangssituation.

Und sie führt nicht zu einem Abschluß im Sinne einer nun festgemachten Moral der Geschichte, die Geschichte endet auf dem Höhepunkt des entwickelten Problembewußtseins.

Woher beziehen Sie die grundsätzlichen Themen und Ideen, die Sie verarbeiten?

Das Entscheidende ist der Blick und das Interesse des Autors, mit dem er die Welt und sich selber sieht. Aber ich nehme vieles aus der Wirklichkeit. Bei meinem Roman „Der Liebeswunsch“ ist die Person, die Frau, die da dargestellt wird, die sich umbringt, die habe ich gekannt, und auch eine zweite, die ein ähnliches Schicksal gehabt hat, die sind zusammen gewachsen. Ich wußte, als ich den Roman begonnen habe, daß der Roman damit enden wird, daß sie sich umbringt, aber ich wußte den Weg dahin noch nicht. Ich habe das eben entwickelt, langsam…

Aber die Ausgangssituation kannte ich. Es stecken in meinen Büchern auch lauter reale Schauplätze. Meine Frau hat zu diesem Roman ein Fotoalbum gemacht, jedes Motiv, jedes örtliche Motiv, ein Hochhaus am Meer, alles das gibt es wirklich. Das muß man nicht erfinden, das muß man finden.

Meine Vorstellung vom Schreiben ist auch die, daß es kein wildes Phantasieren ist, sondern eine Anstrengung der Vorstellungskraft, daß man sich vorzustellen versucht wie etwas ist, d.h. Vorstellungskraft, Phantasie geht davon aus, daß die Realität keinen Widerstand leistet, Vorstellungskraft ist auch eine Erforschung der Realität, des Widerstandes der Realität, man kann nicht umhin sozusagen die Realität zu respektieren.

Was würden Sie Nachwuchsautoren mit auf den Weg geben?

Ich glaube das Entscheidende ist, daß man den Kernpunkt seines Interesses am Leben findet, und man soll das nicht marktorientiert tun. Also ein Autor, so wie ich ihn verstehe, ist nicht jemand, der sich überlegt, was könnte denn jetzt aktuell sein, sondern, was will ich schreiben, was interessiert mich wirklich. Wenn man sein eigenes Interesse am Leben und am Menschen gefunden hat, dann bekommt der Text auch eine Substanz. Wenn man sich etwas ausdenkt, dann fängt man an Figuren in die Richtung eines vorgegebenen Themas zu konstruieren.

Welches Genre erweckt bei Ihnen privat das größte Interesse? Sprich, welche Literaturgattung lesen Sie selbst am liebsten?

Ich habe ja selbst etliche Bücher über Literatur geschrieben. Darin kommen auch die Klassiker vor wie Flaubert, Tolstoi, Joyce und Proust. Das sind alles Autoren, die für mich die große Rolle gespielt haben. Wenn man so lange gelesen hat wie ich, ist es schwer, so sehr man auch ein ausgeprägtes Interesse hat, Bücher zu finden, von denen man schlechthin begeistert ist. Das ist nicht mehr so, wie das früher war.

Dann sagen Sie doch, wer Sie früher begeistert hat.

Das sind die Klassiker - Flaubert, Tolstoi, Dostojewski, Joyce und Kafka - die großen Namen, Tschechow. Dann wird es natürlich sehr breit gestreut, das waren Autoren wie Updike oder eine amerikanische Autorin, Joyce Carol Oates, z. B.

Oder der frühe Hamsun, das Buch Hunger von Hamsun, das war ein Leuchtturm für mich.

Ihre Pläne für die Zukunft?

Ich schreibe an einer Reihe von Erzählungen, die im nächsten Jahr erscheinen werden. Sieben habe ich geschrieben, ungefähr zehn werde ich schreiben.

Im nächsten Jahr werde ich 80.

Sie wirken viel jünger. Sie haben ja auch gesagt, daß Sie sich den Blick für das Leben um Sie herum offen gehalten haben.

Das Leben ist sozusagen mein größtes Interessengebiet.

Besten Dank für dieses Interview!

erschienen in der Federwelt, Ausgabe 48, Okt./Nov. 2004

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Dieter Wellershoff wurde 1925 in Neuss geboren. Ab 1947 studierte er an der Universität in Bonn die Fächer Germanistik, Kunstgeschichte und Psychologie. 1952 promovierte Dieter Wellershoff zum Dr. phil. über Gottfried Benn. Von 1955 bis 1959 arbeitete er als Redakteur bei der „Deutschen Studentenzeitung“ in Bonn. Danach war Dieter Wellershoff als freier Mitarbeiter beim Rundfunk tätig, bevor er 1959 als Lektor beim Verlag Kiepenheuer & Witsch tätig war. Seit 1981 lebt er als freier Schriftsteller in Köln.

Vorlesungen und Seminare an verschiedenen in- und ausländischen Universitäten: München 1962/1963, Warwick/England 1973, Salzburg 1974, Essen und Paderborn 1987/88, Gainesville/Florida 1992, Frankfurt/Main 1995/96. Begründer der „Kölner Schule des Neuen Realismus“, Mitglied der Gruppe 47, im VS, in der Mainzer Akademie der Wissenschaft und Literatur und im PEN-Zentrum.

Auszeichnungen:

(Auswahl):
2001 Friedrich-Hölderlin-Preis, Bad Homburg
2001 Joseph-Breitbach-Preis (gem. mit Thomas Hürlimann und Ingo Schulze)
1995 Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen
1989 Ehrenprofessur des Landes Nordrhein-Westfalen
1988 Heinrich-Böll-Preis
1973 Writer-in-Residence, Universität Warwick/England
1969 Kritikerpreis für Literatur
1962 Literatur-Förderpreis des Landes NRW
1960 Hörspielpreis der Kriegsblinden

Veröffentlichungen:

(Auswahl):
Der verstörte Eros. Essays. Kiepenheuer & Witsch 2001
Der Liebeswunsch. Roman. Kiepenheuer & Witsch 2000
Das Kainsmal des Krieges. Landpresse 1998
Zikadengeschrei. Kiepenheuer & Witsch 1995
Der Ernstfall. Innenansichten eines Krieges. Kiepenheuer & Witsch 1995
Blick auf einen fernen Berg. Kiepenheuer & Witsch 1991
Pan und die Engel. Ansichten von Köln. Kiepenheuer & Witsch 1988
Wahrnehmung und Phantasie. Essays. Kiepenheuer & Witsch 1988
Der Körper und die Träume. Erzählungen. Kiepenheuer & Witsch 1986
Die Arbeit des Lebens. Autobiographischer Text. Kiepenheuer & Witsch 1985

Zwischenreich. Gedichte. Landpresse 1993

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